Die sprachbezogene Kognitivierung und ihr Einsatz im Fremdsprachenunterricht

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Der Erwerb des Wissens
  3. Die sprachbezogene Kognitivierung

2.1. Deklaratives und prozedurales Wissen

2.2. Umformung des deklarativen in prozedurales Wissen

2.3. Die Interface-Positionen

  1. Vorstellung des Grammatikunterrichts

3.1. Die Entwicklung deklarativen Wissens bei den Schülern

3.2. Die Entwicklung prozeduralen Wissens bei den Schülern

  1. Zusammenfassung
  2. Kommentar
  3. Literaturverzeichnis

Anhang

  1. Einleitung

„Wissen ist Macht“, sagte Sir Francis Bacon. Besonders in der heutigen Zeit, der Zeit und der Ge-sellschaft der Information. Wer die Information hat, kann die Macht beanspruchen. Ohne Wissen kommt man heute nicht sehr weit. Die Erwartungen und Anforderungen der Gesellschaft an den Einzelnen steigen rapide. Dies ist beispielsweise an den Schulbüchern und den Lehrplänen genau nachvollziehbar. Das Lern- und Lehrniveau steigt ständig – vom Kindergarten bis zur Universität – und die Wissenschaft versucht neue Wege des Lehrens und des Lernens zu erforschen. Man spricht heutzutage von der «kontinuierlichen Bildung», einer Tendenz, nach der ein Studiumsabschluss nicht mehr den aktuellen Bedürfnissen des Berufslebens genügt, so dass sich der junge Wissen-schaftler ständig weiter- und fortbilden muss. In dieser zweiten Hausarbeit werden wir uns mit den Begriffen der sprachbezogenen Kognitivierung, des prozeduralen und deklarativen Wissens be-schäftigen und anhand einer Unterrichtseinheit die Umwandlung des deklarativen in prozedurales Wissen aufzuzeigen versuchen. Ferner werden die Interface-Positionen geschildert und der Versuch unternommen werden, die Vorgehensweise im Unterricht  anhand der zehn Aspekte der Gramma-tikvermittlung zu begründen.

  1. Der Erwerb des Wissens

Der Mensch als Wesen beginnt zu lernen, sobald er das Licht der Welt erblickt. Der Homo sapiens- sapiens ist von Natur aus mit einer Waffe ausgestattet, die keiner anderen Spezies zur Verfügung steht: seinem Gehirn. Doch ist diese Waffe bei Geburt stumpf. Der Mensch würde nicht einmal überleben können, würde er nach Geburt einfach in freier Wildbahn ausgesetzt werden, da beim heutigen Durchschnittsmenschen sich die Instinkte, welche bei allen anderen Lebewesen extrem ausgebildet sind, zurückgebildet haben. Um nun aus dieser stumpfen Waffe, beispielsweise einem Messer, eine scharfe Klinge zu machen, bedarf es einem jahrelangen Procedere, angefangen vom richtigen Saugen an der Brust der Mutter über Schul- und Universitätsabschluss bzw. Berufsausbil-dung bis hin zu den unendlichen Weiten der verschiedensten wissenschaftlichen Forschungsgebiete. Die wichtigste Frage, die sich nun stellt, ist die Frage nach dem „Wie“. Wie erlangt der Mensch das Wissen? Da der Rahmen dieser Arbeit viel zu begrenzt ist, um ausführlich eine Antwort auf diese Frage zu etablieren, kann nur in groben Strichen der Ablauf des Wissenserwerbs des ersten Exis-tenzdrittels eines Menschen skizziert werden. Dieser Ablauf stützt sich hauptsächlich auf drei Fak-toren: 1) Familie, 2) Schul- sowie Universitäts- bzw. Berufsausbildung und 3) soziales Umfeld. Das Wissen erstreckt sich über alle nur denkbaren Lebensbereiche, so dass es unerschöpflich erscheint. Wissen erlangt man durch Lernen. «Γηράσκω αεί διδασκόμενος» pflegten die alten Griechen zu sagen, was so viel bedeutet wie: «Ich altere andauernd gelehrt». In gutem Deutsch lässt sich dieser Spruch folgendermaßen interpretieren: Der Mensch altert, und trotzdem lernt er ständig hinzu. Also ist Wissen unerschöpflich. So hat beispielsweise der kleine Sprössling anfangs Verhalten- und Be-nehmensformen zu lernen, er muss lernen, alleine zu essen, sich anzuziehen, bevor er in den Kin-dergarten gehen kann, der zweiten „Lerninstanz“ im menschlichen Leben – zumindest im westlichen Kulturkreis. Im Kindergarten wird unter anderem gelehrt, wie man sich in eine Gruppe integriert und wie man sich darin verhält. Die ersten außerfamiliären Konflikte und Spannungen treten auf, und auch diese lernt der kleine Mensch, unter Hilfe der Erzieherinnen und des Familienkreises zu meistern. Doch schon in diesem kleinen Alter wird in der Erziehung der kleinen Menschen großer Wert auf Bewusstwerden gelegt, hauptsächlich in punkto Verhalten in der Gruppe. Alles richtet sich ab jetzt im Leben des kleinen Sprösslings nach zwei magischen Wörtern: lehren und lernen.

 

  1. Die sprachbezogene Kognitivierung

Dietrich Homberger (2000:252ff) definiert die Kognitionswissenschaft als eine interdisziplinäre Wissenschaft, welche ihren Ursprung in der Psychologie und der Computerforschung hat, deren Ziel es ist, sich mit der empirischen Erforschung von Strukturen und Prozessen menschlichen Wissens zu befassen, sie umfassend darzustellen und zu erklären. Dabei werden drei Grundfragen gestellt: 1) Welche sind die kognitiven Grundlagen für die komplexen menschlichen Fähigkeiten wie Sprache und Denken? 2) Wie wird dieses Wissen im Gehirn repräsentiert und wie wird es vernetzt und 3) Welche kognitiven Prozesse laufen ab, wenn Wissensbestände abgerufen und verwendet werden. Aus der Kognitionswissenschaft entwickelten sich u.a. die kognitive Psychologie, die kognitive Grammatik, die kognitive Linguistik und die Kognitionssemantik. Dies ist der wissenschaftliche Kontext, in dem viele Wissenschaftler versuchen, Sprache, Lernen und Wissen zu definieren und ihre Zusammenhänge zu erklären.

Horst Raabe (2002:72f) unternimmt den Versuch, zwischen den Begriffen „Grammatikunterricht“, „Grammatikvermittlung“ und „Kognitivierung“ zu unterscheiden und sie zu definieren. Der Gram-matikunterricht beinhaltet demnach Grammatikvermittlung und Übungsgeschehen, also grammati-sches Üben, während Kognitivierung der genauere, spezifischere Begriff einer Grammatikvermitt-lung ist, der von ihm (2002:75) wie folgt definiert wird: „Kognitivierung meint den Einsatz von Lehrverfahren, die auf Bewusstmachung zielen, um beim Lernenden kognitives Lernen zu fördern“. Ähnlich ist die Definition von Tönshoff (in Gnutzmann/Königs, 1995:225) wonach „Kognitivierung als der Einsatz von auf Bewusstmachung zielenden unterrichtsmethodischen Verfahren verstanden werden“. Darüber hinaus sei Bestreben der sprachbezogenen Kognitivierung das „lernerseitige Bil-den, Testen und Modifizieren von Hypothesen über Regularitäten der Fremdsprache … zu unterstüt-zen“. So erscheint es nun durchaus möglich, die Begriffe „Vermittlung“ und „Kognitivierung“ dif-ferenziert zu definieren, bzw. ihre Definitionen zu ergänzen: Die Vermittlung der Grammatik um-fasst das breite Spektrum der Lehrmaßnahmen, die von implizit bis explizit reichen können; sie ist also lehrerzentriert. Die Kognitivierung hingegen „eröffnet die Perspektive der Lernenden und zielt neben dem Vermittlungsaspekt auf kognitives im Sinne einsichtgesteuerten Lernens“ (Raabe 2002:75). Darüber hinaus sind für Raabe (2002:78) Lehren und Lernen zwei auf einander bezogene Faktoren. Diese Meinung wird auch von den Autoren Funk und Koenig (2003:114) untermauert, denn sie sind der Auffassung, dass der Grammatikunterricht auf zwei Aspekte Rücksicht nehmen muss: Erstens sollten kognitive und kreative Kräfte, welche Lerner mitbringen, stärker aktiviert werden und zweitens müsste eine neue Rolle des Lehrers ausgearbeitet werden, der  zu einem „Or-ganisator von Lernprozessen werden sollte, zu einer Lehrerpersönlichkeit, die nicht nur den Stoff „lehrt“, sondern den Lernern die Möglichkeit eröffnet, selbst die Lernprozesse mitzubestimmen“

 

2.1. Deklaratives und prozedurales Wissen    

Der Erwerb einer Fremdsprache ist ein langer, oft über Jahre dauernder Prozess. Das Ergebnis dieses Prozesses kann unter dem Begriff «Sprachwissen » zusammengefasst werden, mit dem sich Wissen über Sprache und über Sprachverarbeitungsprozesse die Sprachverarbeitungsforschung befasst, welche sich wiederum an der Psycholinguistik orientiert. Beim Versuch einer genaueren Definition des Begriffes «Sprachwissen», werden deklaratives und prozedurales Wissen als zentrale Komponenten eingebracht.

Nach den Definitionen in Raabe (2002:94ff) ist deklaratives Wissen „Wissen, dass“ oder auch Fak-tenwissen genannt, welches im Langzeitgedächtnis gespeichert wird. Es wird erworben durch Mit-teilung, doch kann es nicht unmittelbar für Handlungen eingesetzt werden, es ist statisch. Deklarati-ves Wissen ist zum Beispiel, das Faktum, dass Athen die Hauptstadt Griechenlands ist, oder dass die chinesische Mauer das einzige menschliche Bauwerk ist, welches aus dem Weltall mit bloßem Auge zu sehen ist. Solches Wissen ist explizit.

Prozedurales Wissen ist „Wissen, wie“ oder auch als Handlungswissen bekannt. Man eignet sich prozedurales Wissen an, indem man Fertigkeiten durch wiederholtes Üben automatisiert. Dieses Wissen wird getrennt vom deklarativen Wissen gespeichert. Das klassische Beispiel hierfür ist das kleine Einmaleins oder der Arbeiter in einer Werft, der gelernt hat, dass er zwei Metallteile, die zu-sammengeschweißt einen Winkel von 90 Grad bilden müssen, mit seinem Schweißgerät in einem Winkel von 45 Grad zu schweißen hat.  Dies unterstreicht auch die Ansicht Wolffs, dass prozedura-les Wissen „als fertigkeitsorientiertes, implizites und automatisiertes Wissen “ verstanden wird. Veranschaulicht werden kann diese Aussage von Wolff an einem Beispiel: Archäologen finden bei ihren Ausgrabungsarbeiten in Messini auf dem Peloponnes eine Marmorplatte mit einer Inschrift, die jedoch nicht vollständig ist, da ein Teil der Platte abgebrochen ist und das Teil fehlt. Bei der Abschrift schon, versucht das geschulte Team die Inschrift zu vervollständigen, da der Drang zur Vervollkommnung in derartigen Situationen immer sehr groß ist. Die Art und Weise des Vorgehens dieses Archäologenteams lässt schließen, dass sie prozedurales Wissen einsetzen, um zu ihrem Ziel zu gelangen.

Einer der Pioniere in dieser wissenschaftlichen Richtung scheint Anderson  zu sein, der diese Be-griffe Anfang der 80er Jahre eingeführt hat. Er kategorisiert knowledge (Wissen) in „declarative knowledge und procedural knowledge. Declarative knowledge comprises the facts we know; proce-dural knowledge comprises the skills we know how to perform“. Er ist der Auffassung, dass beide Wissenskomponenten beim Menschen vorhanden sind und dass prozedurales Wissen immer über deklaratives Wissen erworben wird.

 

2.2. Umformung des deklarativen in prozedurales Wissen

Der von Raabe dargestellten Analyse zufolge (2002:97f) „entzieht sich prozedurales Wissen mit zunehmender Beherrschung der Fertigkeiten der Bewusstseinsfähigkeit, und damit z.B. der Verbali-sierung“. Prozedurales Wissen ist ständig verfügbar, und zwar durch Prozeduren, in denen Fakten bereits integriert worden sind. Im sprachlichen Kontext gesehen ist prozedurales Wissen „Steue-rungswissen“, welches deklaratives Wissen aktiviert, je nachdem ob es verschiedene (sprachliche) Situationen erfordern. Das Grundschema dabei ist Rezeption – Produktion – Interaktion, also sprachliche Aufnahme – sprachliche Produktion – sprachliches Handeln.

Die wissenschaftliche Diskussion ist längst nicht erschöpft, sowohl im großen Kontext der Sprach-erwerbsforschung, als auch in kleineren Maßstäben, beispielsweise in der Frage, ob und in welchem Maß deklaratives in prozedurales Wissen umformbar ist oder nicht. An dieser Stelle dürfte wohl eine Hypothese aufgestellt werden, dargestellt an folgendem anschaulichen Beispiel: Deklaratives Wissen sind die vielen, kleinen, einzelnen Teilchen eines großen Mosaiks, dem prozeduralen Wissen. Allein und zerstreut bedeuten diese kleinen Teilchen nicht sehr viel, verglichen mit dem, was viele von ihnen zusammen ausmachen könnten. Um vom Poetischen zum Sprachlichen zurückzukehren: Das deklarative Wissen über Subjekt, Prädikat und Objekt allein gewährleistet nicht, dass man auch einen richtigen Satz zusammenstellen kann und schon gar nicht, dass man in einer ganz konkreten Situation richtig und kontextgemäß artikulieren kann. Also muss dieses Wissen durch bestimmte „Prozeduren“ in prozedurales Wissen umgewandelt werden, so dass man der jeweiligen Situation sprachlich gerecht wird.

 

2.3. Die Interface-Positionen  

Innerhalb der Sprachforschung scheint die Diskussion über die Frage, ob es eine Verbindung zwi-schen den zwei Speichern im menschlichen Gehirn, in denen deklaratives und prozedurales Wissen gespeichert wird, noch nicht ausgeschöpft zu sein. Raabe (2002:101) bezeichnet diese Verbindung zwischen den beiden Speichern als interface. Für die sprachbezogene Kognitivierung ist die Über-gangsmöglichkeit von deklarativ nach prozedural besonders wichtig. Deshalb entwickelte sich die so genannte „starke Interface-Position“, welche davon ausgeht, dass sprachbezogene Kognitivierung von Nutzen ist und zu einer verbesserten Sprachverwendung führt. Raabe (2002:110) bezeichnet sie als „Grammatik, ja bitte!“ Position. Hauptvertreter dieser Position ist Anderson, der davon ausgeht, dass „explizites, deklaratives sprachliches Faktenwissen in prozedurales implizites Handlungswissen wandelbar ist“ (Raabe 2002:110) Die Umwandlung geschieht in drei Stufen: von der kognitiven Stufe über die assoziativen Stufe zur autonomen Stufe. In der kognitiven Stufe ist das deklarative Faktenwissen die Basis von Handlungen. Diese Handlungen sind bewusst kontrolliert, langsam und oft nicht fehlerfrei. In der assoziativen Stufe werden die Handlungen immer mehr automatisiert, da das vorliegende Wissen durch häufige Wiederholung implizit wird, bis schließlich zur autonomen Stufe, bei der die Handlung zur Fertigkeit geworden ist. Somit erfolgen automatisierte Prozesse sprachlichen Handelns.

Als Gegenpol bildete sich die so genannte „non-Interface-Position“, deren wichtigster Vertreter Krashen ist. Er geht davon aus, dass deklaratives sprachliches Wissen, also explizites Wissen einer-seits und prozedurales Wissen, also implizites Wissen, getrennt gespeichert sind und getrennt ge-speichert bleiben. Trotz des Übens gibt es zwischen den zwei Speichern keinen Übergang, was zur These führt, dass gelerntes Wissen nicht zu erworbenem Wissen werden kann (Raabe, 2002:104f). Demnach passen explizites Grammatikwissen und Kommunikationsfähigkeit nicht zusammen. Krashen geht davon aus, dass im Menschen ein angeborener Spracherwerbsmechanismus existiert, der sogenannte language acquisition device  (LAD), der beim „unterrichtlichen“ Lernen entschei-dend ist. Dadurch dass dieser Mechanismus an einem „verstehbaren Input“ operiert, garantiert er Erwerbszuwachs. Besonders wichtig sind für den Spracherwerb außerdem Stress- und Angstfrei-heit, sowie Selbstvertrauen. Diese drei Faktoren garantieren, dass der Input störungsfrei bleibt.

Diese beiden Positionen bilden die äußersten Extreme in dieser wissenschaftlichen Diskussion, doch bildeten sich weitere wissenschaftliche Standpunkte heraus, die zwischen den beiden Extremen liegen: die variability-Hypothese, die teachability-Hypothese, und die noticing-Hypothese, die von Raabe (2002:114) als „Grammatik, ja aber nur wenn …“ – Position bezeichnet werden.

Die variability-Hypothese gibt die Zweispaltung implizites – explizites Wissen auf. Für sie spielen zwei Faktoren eine Rolle, und zwar für den gesamten Bereich der Sprachverwendung, also sowohl Sprechen, Schreiben, Lesen oder metasprachliche Aufgaben: a) Grade der Analysiertheit des Wis-sens und b) Grade der Kontrolle über das Wissen Raabe (2002:114). Analyse ist hier nach Ansicht von Raabe (2002:115) die Fähigkeit des Lerners Wissen strukturell zu analysieren und dann struk-turell weiterzuarbeiten, wobei sich aus der Zunahme dieses analysierten sprachlichen Wissens ein breiteres Spektrum des Sprachgebrauch ergibt.

Die teachability-Hypothese geht der Frage nach, ob sich Spracherwerb überhaupt steuern lässt. Sie beruht auf der Feststellung einer konstanten Abfolge von Entwicklungsstufen, die von den Lernen-den nicht übersprungen werden können. So kann der Einsatz von Grammatik im Unterricht nur er-folgreich sein, wenn die Schüler psycholinguistisch den Reifegrad erreicht haben, um die zu lernen-den Strukturen derartig verarbeiten können, dass ein uneingeschränkter Sprachgebrauch praktiziert werden kann. Sie bejaht Grammatikunterricht uneingeschränkt bei den Phänomenen, die entwick-lungsunabhängig sind, wie z.B. die Verben „sein“, „heißen“ oder „lernen“.

Die noticing-Hypothese „besagt, dass Lernen ohne Bewusstheit (consciousness) unmöglich ist“ (Raabe 2002:127). Diese Hypothese steht in einem geraden Gegensatz zu Krashens non-interface These. Ihr Hauptvertreter ist Schmidt, der den Begriff Bewusstheit (consciousness) in weitere Be-griffe zerlegt: Absicht (intention), Aufmerksamkeit (attention), Gewahrwerden (noticing) und Ver-stehen (understanding). Jeder dieser Begriffe wird unter dem Spektrum seiner Nützlichkeit für den Fremdsprachenerwerb betrachtet. Besonders wichtig ist das noticing, wonach diese Hypothesse auch benannt wurde. Das von Raabe in seinem Werk vorgelegte Beispiel der Wechselpräposition „auf“ ist besonders einleuchtend, was noticing bei Schülern ist. Um dies aber zu erreichen, sollte das Unterrichtsbemühen des Lehrers auch darauf ausgerichtet sein, seinen Schülern den Freiraum und die Zeit zu geben, noticing zu praktizieren.

 

  1. Vorstellung des Grammatikunterrichts

Im Rahmen dieser zweiten Hausarbeit wurde eine Unterrichtseinheit in einem L2-Kurs  der 1. Klas-se der Sekundarschule der Europäischen Schule Frankfurt abgehalten, der aus Schülern im Alter von 12 Jahren besteht. Diese Schüler kommen hauptsächlich aus England, Frankreich und Italien, und weisen auch ein sehr unterschiedlich vorhandenes Volumen an Deutschkenntnissen auf, was den Unterricht zusätzlich erschwert. Der Kurs findet fünfmal wöchentlich am Vormittag statt und jede Unterrichtseinheit dauert fünfundvierzig Minuten, ohne dass in diesem Zeitraum eine Pause einge-baut ist. Die Sitzordnung des Kurses ist in Form des griechischen „Π“ aufgebaut, so dass der Leh-rende einen sehr guten optischen Kontakt zu all seinen Schülern hat. Das Klassenzimmer ist mit allen didaktisch-technischen Hilfsmitteln ausgerüstet.

Dieser Kurs wurde aus zwei Gründen ausgewählt: Erstens, weil bereits vor Kurzem das grammati-sche Phänomen des Perfekts eingeführt worden ist, dessen erster Teil durch einen Test durch die Kursleiterin „abgefragt“ wurde, und zweitens, weil nicht beabsichtigt wurde, für diese Unterrichts-einheit den vorgegebenen Lehrplan der Schule in irgendeiner Weise zu unterbrechen . Die Ergeb-nisse des Tests, also die wichtigsten, gravierenden Fehler, wurden mit in die Unterrichtsplanung aufgenommen . Ziel der Unterrichtseinheit ist die These der sprachbezogenen Kognitivierung einer-seits und der starken Interface-Position Andersons andererseits in der Praxis einem „Bestehenstest“ zu unterwerfen.

Das im Unterricht eingesetzte Lehrbuch ist «Deutschmobil 2», das von der ESF  vorgeschrieben ist. Da der die Unterrichtseinheit Lehrende das konkrete Lehrbuch als veraltet ansieht, wurde unter völ-ligem Einverständnis der mitbetroffenen Lehrkräfte der Schule  beschlossen, für diese Unterrichts-einheit lehrwerksunabhängige Materialien einzusetzen. Der Unterricht begann damit, dass sich der Lehrende vorstellte, und den Schülern der Klasse erklärte, dass er heute den Unterricht abhalten würde, da er dies für seine «Forschungsarbeit» benötige. Diese Erklärung löste bei den Schülern unerwartet eine Begeisterung aus, was sich als besonders hilfreich für den Unterrichtsablauf erwei-sen sollte. An den Hauptfehlern der Schüler in ihren Tests war zu ersehen, dass sie den Gebrauch der Hilfsverben bei der Perfektbildung nicht richtig verstanden und integriert hatten. Diese Fehler waren ein guter Anlass dafür, den Schülern einerseits die Details des Perfekts bewusst zu machen, und andererseits direkte Verbindungen zu ihren eigenen Sprachen knüpfen zu lassen.

 

3.1. Die Entwicklung deklarativen Wissens bei den Schülern

Zuerst begann der Lehrende die grammatische Theorie des Perfekts zu wiederholen, in seiner ganz individuellen Art und Weise. Er nahm sich nicht den Overheadprojektor zu Hilfe, sondern bevor-zugte den Tafelanschrieb. Er forderte die Schüler auf, ihm bei der Wiederholung der Theorie zu hel-fen. Es meldeten sich die besonders starken und ehrgeizigen Schüler. Die erste simple Frage war: „Was ist Perfekt?“ Anfangs herrschte Stille , bis schließlich ein Junge sich zu sagen traute:„ Also das ist wie zum Beispiel «Ich habe meine Hausaufgaben gemacht»“. Das Frage- und Antwortspiel ging weiter mit der Frage, wie man das Perfekt bildet. Der Lehrende lenkte geschickt die Schüler zur Formel „Hilfsverben + Partizip “ und erst dann zur Formel „haben oder sein + Partizip“. Da sich momentan die Atmosphäre elektrisch zu laden schien, nahm der Lehrende eine schauspielerische Haltung ein, reckte die eine Hand im Stil von Hamlet und fragte „sein oder haben“? Das löste ein Lachen bei den Schülern aus, wobei natürlich die Spannung verflog und der Unterricht fortgesetzt werden konnte: Ernster Miene bediente sich nun der Lehrer der Mimik und Gestik und versuchte den Schülern „Fortbewegung“ zu demonstrieren. Das Wort kam schnell von Schülers Lippe, so dass daraufhin der Lehrer zwei Spalten an der Tafel schuf: über der linken Spalte schrieb er „Fortbewegung“, über der rechten „keine Fortbewegung“ und in jede Spalte das passende Hilfs-verb . In beide Spalten schrieb der Lehrer auch die englische und französische Bedeutung und ver-teilte der Klasse eine Kopie , die dem Tafelbild ähnelte, dieses aber durch die Ampelmännchen visuell unterstützte. An diesem Tafelanschrieb wurde der Gebrauch der Hilfsverben im Perfekt er-klärt. Auf die Frage des Lehrers, ob die Klasse alles verstanden habe, meldete sich ein Schüler und sagte. „Aber wir sagen doch auch «ich bin aufgewacht» und das ist keine Fortbewegung“. Gleich daraufhin ging der Lehrer auf die Zustandsveränderung ein, und erklärte die Reihenfolge «ich schla-feich wache auf ich bin wach».  Der nächste Schritt war, die Tafel aufzuschlagen und im mitt-leren Teil die Perfektformel des Deutschen durch Tafelanschrieb zu visualisieren, auf der linken Tafelseite die französische Perfektformel und auf der rechten, die entsprechende englische Formel zu schreiben:

avoir ou être + participe  haben oder sein + Partizip           have + particip

Dann wurde ein kleiner Text  eingesetzt, in dem Hauptsächlich Verben vorkamen, die das Perfekt mit dem Hilfsverb „haben“ bilden. Dieser Text wurde als Kopie verteilt, und die Schüler wurden vom  Lehrer aufgefordert, kleine Gruppen von drei bis vier Schülern zu bilden und den Text zuerst zu lesen. Dadurch beabsichtigte er, Unsicherheiten seitens der Schüler vorzubeugen und ein gewis-ses Gemeinschaftsgefühl unter ihnen entstehen zu lassen, da es sich –  wie erwähnt – um Schüler aus verschiedenen Herkunftsländern handelt. Nach Klärung einiger unbekannten Wörter, und um die Arbeit der Schüler zu erleichtern und ihnen die Angst vor Fehlern zu nehmen, forderte er die Schüler auf, die Verben des Textes in die Spalte mit „haben“ oder „sein“ zu schreiben.  Nach Ablauf der dafür gewährten drei Minuten trugen die Schüler die Verben vor und der Lehrer schrieb sie an die Tafel. Das Tafelbild war eindeutig: 10 Verben in der Spalte «keine Fortbewegung», 2 Verben in der Spalte «Fortbewegung». In diesem Moment staunten die Kinder, vor allem die aus der engli-schen Sektion. Die Antwort auf die Frage „haben oder sein?“ lag größtenteils vor ihnen. Es bedurfte nun eigentlich nur einer Verbalisierung des Tafelbildes, um dieses Bewusstwerdens der Kinder zu festigen.

 

3.2. Die Entwicklung prozeduralen Wissens bei den Schülern

Die Entwicklung prozeduralen Wissens ist ohne den Faktor Zeit nicht realisierbar. Wie schon am Anfang dieser Arbeit erwähnt wurde, gelangt man zu prozeduralem Wissen, indem Fertigkeiten durch wiederholtes Üben automatisiert werden. Also hat man während dieser kleiner Unterrichts-einheit von fünfundvierzigminütiger Dauer keinerlei Entwicklung prozeduralen Wissens bei den Schülern im Unterricht erwarten dürfen. Denn es ist offensichtlich, dass die Schüler das im Unter-richt durch Kognition erlangte Faktenwissen erst nach einer großen Anzahl von Übungen – schrift-lich oder mündlich – in Handlungswissen umwandeln könnten. Dies ist durch die Unterrichtspraxis im DaF-Unterricht zu belegen: In der Grundstufe 1 kommt der Schüler zum ersten Mal mit dem Perfekt in Kontakt. Dieses Wissen wird in der Grundstufe 2 gefestigt und erweitert. Erst im Zertifi-katskurs wird vom Lerner erwartet, dass er sich sowohl schriftlich als auch mündlich perfekt im Perfekt ausdrückt. Und dies erst in seinem dritten „Lernjahr“.

Die Schüler des L2-Kurses der 1. Klasse der ESF erhielten vom Lehrenden die Aufgabe, zu Hause den verteilten Text „Guten Morgen“ ins Perfekt umzuschreiben. Die Schüler gaben ihre Hausaufga-be am nächsten Tag zurück. Eine Fehleranalyse dieser Hausaufgabe zeigt eindeutig, dass die Zahl der begangenen Fehler in der Wahl des richtigen Hilfsverbs deutlich zurückgegangen war, vor allem bei den Schülern aus der englischen Sektion. Dass die Kinder das Perfekt nicht korrekt bilden können, hängt damit zusammen, dass es erst kürzlich eingeführt worden ist und weil das Perfekt des Deutschen ein langwieriger und facettenreicher Lernprozess ist und sich nicht in zwei bis drei Un-terrichtseinheiten abschließen lässt.

 

  1. Zusammenfassung

Die Schlussfolgerungen, die sich aus der abgehaltenen Unterrichtseinheit ableiten lassen, waren er-wartungsgemäß positiv. Bei den französischen Schülern war eine einkehrende Ruhe, sowie auch erhöhtes Selbstvertrauen ersichtlich, als beispielsweise der Lehrende das deutsche Wort „Fortbewe-gung“ mit „mouvement“ auf Französisch erklärte. Der Lehrer sprach „ihre“ Sprache, was für Fran-zosen kulturpsychologisch wichtig zu sein scheint. Die relativ wenigen Italiener des Kurses konnten sich insofern mit dem Lehrenden identifizieren, da er in seinen Unterricht Mimik und Gestik einge-baut hat. Auch dass der Lehrende aus Griechenland kam, war ein Kontaktpunkt, denn ein mediter-ranes Flair war deutlich zu erkennen. Die englischen Schüler hingegen schienen den Unterrichtsab-lauf auf ihre Weise zu „genießen“, weil der Lehrende keineswegs wie ihre eigenen, muttersprachli-chen Lehrer wirkte.

Die Resultate aus der Bearbeitung der Hausaufgabe der Kinder waren in dem Maße aussichtsreich und versprechend, dass die Kinder begriffen haben, wann sie welches der zwei Hilfsverben des Deutschen bei der Perfektbildung einsetzen müssen . Die vielen Fehler beim Partizip bedürfen weiterer, eingehender Bewusstmachung im Unterricht. Die Wege dorthin sind ganz individuell und völlig von der Persönlichkeit des Lehrenden abhängend. Die gegebene Zeit der fünfundvierzig Mi-nuten ist sicherlich nicht ausreichend, um generelle Schlussfolgerungen ziehen zu können, doch kann dadurch durchaus abgeleitet werden, dass Anderson Theorie sowohl Hand als auch Fuß hat.

Bei der Vorbereitung des Unterrichts hat der Lehrer auf einige der zehn Aspekte, die auf die Frage von Raabe „Wie viel explizite Grammatikvermittlung braucht der Mensch?“ antworten, Rücksicht genommen: der Lernmodus war rein explizit, denn das Lehr- und Lernziel war, den Schülern die Differenzierung der Hilfsverben im Deutschen zu vereinfachen. Der Aspekt des Alters wurde natür-lich auch berücksichtigt, doch widerlegt die Analyse der Hausaufgaben die These, dass Lernende mit steigendem Alter mehr von Grammatikerklärungen profitieren.  Der Aspekt der Leistungskon-trolle diente in diesem Falle nicht der Kontrolle an und für sich, um die Schüler mit einer Note zu bewerten, sondern erwies sich insofern hilfreich, dass man daraus ersehen konnte, ob das Lehrziel erreicht wurde oder nicht. Die Aspekte von «Geschichte und Tradition», «Lernschwierigkeit», «Struktur der Zielsprache» und «Erstspracheneffekt» waren ebenfalls von besonderem Gewicht, da es sich um einen Kurs handelte, der aus Schülern verschiedener Sprachen besteht. Doch bei der Vorbereitung des Unterrichts wurde besonders das schulische soziale Umfeld in die Unterrichtspla-nung miteinbezogen: Der Entwurf des Textes beispielsweise beruht auf dem täglichen Kontakt der beiden Erziehungsberater der Schule mit den Schülern, die sie allmorgendlich dazu bewegen wollen, beim Eintreten in einen Raum, die sich dort befindenden Personen zu grüßen. Dieses Unterfangen, das bereits mehrere Monate dauert, kann die These von Anderson nur zu deutlich unterstützen, da das morgendliche Grüßen zuerst als externer Input eingegeben wurde, diese Eingabe durch wo-chenlange Antworten auf die Frage „Warum?“ bewusst gemacht wurde, mit dem Ziel, dass dieses deklarative Wissen, dass man morgens beim Eintreten in einem Raum grüßt, in prozedurales Wissen umgewandelt wird, so dass eines Tages die Schüler beim Eintreten von allein aus „Guten Morgen“ sagen, und dass man sie nicht mehr daran erinnern muss.

 

  1. Kommentar

Wie auch Gnutzmann (1995:270) feststellt, verwenden sehr viele Theoretiker in der Spracherwerbs-forschung viele ähnliche Begriffe, wie „Sprachbewusstsein“ oder „Sprachbewusstheit“, „awareness of language“ „consciousness“, was leicht verwirrend wirken kann. So versucht manch einer sich zu differenzieren oder abzugrenzen. Und gerade diese feine Abgrenzung kann zu einer ins Endlose rei-chende Diskussion führen, die dann aber Lehrenden und Lernenden nicht mehr sehr viel Praktisches zu bieten hat. Die „Grammatik ja bitte – Position“ von Anderson ist in ihrem Grundansatz nicht falsch. Dies ließe sich einfach an einem Beispiel des Lehr- und Lernprocederes des Perfekts der deutschen Sprache im FSU nachvollziehen. Für den Erstsprachenerwerb oder Zweitsprachenerwerb im natürlichen Umfeld ist diese These jedoch nicht unanfechtbar, da der Muttersprachler ja nicht „bewusst“ lernt (Raabe 2002:111). Krashen teilt die Aneignung einer Fremdsprache in erworben und gelernt: Erworben wird eine Fremdsprache von Kindern oder Immigranten, bei längeren Auf-enthalten im Land der Fremdsprache, und gelernt wird sie beispielsweise im Ausland, bei Volks-hochschulen, privaten Sprachschulen, Unis etc. Somit gelangt man zum Erwerb, d.h. zum natürli-chen Sprachgebrauch (Muttersprachler, bilinguale Ausländer) und zum Erlernen. Ist es eine Frage der Artikulation und der Aussprache? Dass man die deutsche Perfektform «haben oder sein + Parti-zip II» einem französischen Schüler bewusst machen kann, ist einfach, da auch im Französischen das Perfekt ebenso gebildet wird, nämlich «avoir ou être avec participe», so dass sehr leicht Assozi-ationen aufzubauen sind. Dass man ihm auch womöglich die Bildung des Partizips der schwachen Verben so „lehrt“, dass bei ihm automatisch sein „Bewusstsein“ stimuliert wird, scheint vertretbar zu sein. Doch bei der Abhandlung der Partizipien der starken Verben des Deutschen stehen dem Lehrer nicht viele Optionen zur Verfügung: Es handelt sich hierbei um einen gewaltigen externen Input. Das ist ein Faktum und der Lehrer muss nach geeigneten Wegen suchen, wie er seine jewei-ligen Schülergruppen dazu bringt, dass sie dieses «Wissen» am Ende einer Lernphase als „input completed“ deklarieren.

Anders als im Beispiel mit dem Perfekt kann es bei einem englischen Schüler durchaus zu Störungen in seinem „awareness procedure“ bei der Abhandlung des Tempus der Erzählform kommen. Außer bei Märchen und Fabeln bevorzugt man im Deutschen das Perfekt als mündliche Erzählform, während im Englischen vorrangig das Präteritum gebraucht wird. Hier wird es nicht leicht sein, zwischen den zwei Sprachen Brücken zu schlagen. Trotz alledem ist man heute von der Tendenz des einsprachigen kommunikativen Unterrichts unter Einsatz von Mimik und Gestik abgekommen. Es ist kein Tabu, sondern eher ein „muss“, auf die Muttersprache der Lerner zurückzugreifen, so dass dadurch der Fremdsprachenunterricht bewusst unterstützt werden kann.

 

 

Literaturverzeichnis

Funk Herrmann, Koenig Michael, (2003): Grammatik lehren und lernen. Berlin, München, Wien, Zürich, New York: Langenscheidt

Gnutzmann Claus / Königs Frank (Hrsg.), (1995): Perspektiven des Grammatikunterrichts. Tübingen: Narr

Homberger Dietrich, (2000): Sachwörterbuch zur Sprachwissenschaft. Stuttgart: Reclam

Raabe Horst, (2002): Grammatik und ihre Vermittlung im Fremdsprachenunterricht.

Band B. Patra: EAP

 

Diese Arbeit wurde im Februar 2004 in Frankfurt verfasst und bei Prof. Dr. Berberoglou im Rahmen des Postgraduiertenstudiums der EAP Universität Patras eingereicht.

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